Javier Milei: Der radikale Präsident und der Preis der Kettensäge

Eine kritische Bilanz seiner Wirtschaftspolitik – und warum Argentinien am Abgrund steht

1. Kontext: Argentinien aus den Angeln

Argentinien ist seit Jahrzehnten ein klassisches Beispiel für wirtschaftliche Instabilität: hohe Inflation, massive Staatsdefizite, schwache Haushaltsbilanz, schwach regulierte Arbeits- und Finanzmärkte, ein aufgeblähter Staatssektor und eine starke politische Verdruss- und Unzufriedenheitslage. Milei gelang es, mit einer radikalen Wendung genau diesen Frust aufzugreifen: Die Botschaft lautete „Der Staat ist das Problem“ – und er versprach: Wir schneiden ihn mit der Kettensäge.

In der Tat: Der wirtschaftspolitische Ansatz ist radikal. Milei vertritt eine Mischung aus libertären und populistischen Positionen. Er kritisiert den Banco Central de la República Argentina (BCRA), will ihn abschaffen oder zumindest durch eine Parallel-Dollar-Regelung ersetzen, treibt Deregulierung, Steuer- und Staatsausgabenabbau voran. Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)+3Friedrich Naumann Foundation+3as-coa.org+3 Gleichzeitig bewegt sich Argentinien in einer angespannten geopolitischen Umgebung: hohe Verschuldung, große Abhängigkeit vom Export, vom Rohstoff- und Agrarsektor, von Subventionen und internationaler Kredit- und Hilfspolitik.

Der Wahlsieg war insofern keine normale Wahl, sondern vielmehr ein Auftrag zur radikalen Umkehr – eine Ablösung des bisherigen Establishments. Doch mit großer Reformbereitschaft geht auch großes Risiko einher.

2. Die populär-gewordenen Konzepte seiner Politik

Ein Blick auf die Kernelemente zeigt, welche Mechanismen Milei propagiert – und zugleich, warum sie oft idealisiert oder verkannt werden.

a) Minimalstaat, Ausgabenkürzungen, Deregulierung
Milei kündigte an, die Staatsausgaben massiv zu reduzieren, Ministerien zusammenzulegen oder abzuschaffen, Stellen zu streichen und gesetzliche/regulatorische Hemmnisse zu beseitigen. Cato Institute+2GIS Reports+2 Die Idee: Ein kleiner Staat bringt mehr Effizienz, weniger Korruption, mehr Wachstum. Im Ausland wurde das vielfach als modernes Reformmodell gefeiert.

b) „Schocks“ gegen die Inflation
Argentinien litt unter chronisch hoher Inflation. Milei setzte auf einen «Schock»-Ansatz: rasche Devaluation des Peso, Abschaffung von Subventionen (z. B. Energie, Transport), drastische Kürzungen. The Associated Press+2Gallup.com+2 Diese Radikalität wurde von manchen als notwendiger Reset gefeiert – als letzter Weg, um das Land aus der Spirale zu befreien.

c) Markt- und Auslandsoffenheit; Privatisierung
Er propagierte die Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Prinzipien: Öffnung für Investoren, Privatisierung staatlicher Unternehmen (z. B. Energie, Infrastruktur), Abbau von Handelshemmnissen und Bürokratie. Friedrich Naumann Foundation+1 Dies wurde als Rückkehr zu Argentinien als ehemals wohlhabendem Land verstanden – zu seiner Blütezeit früher im 20. Jahrhundert.

d) Dollarisation oder zumindest Abschaffung der Zentralbank
Ein besonders radikales Konzept: Milei forderte in der Kampagne, den Peso abzuschaffen bzw. durch den US-Dollar zu ersetzen und die Zentralbank formal aufzulösen. Friedrich Naumann Foundation+1 Dies wurde als ultimative Lösung gegen Inflation verstanden.

e) Ideologische Neuorientierung; enge USA-Anbindung
Milei richtet Argentinien strategisch neu aus: weg vom bisherigen Peronismus, weg von populistischen Linkspolitiken, hin zu einer offenen Kapital- und Außenorientierung. Zugleich betont er die Nähe zu den USA und insbesondere zur konservativ-populistischen Strömung dort unter Trump. CSIS+1

Diese Konzepte verhalfen Milei zu hohem Zuspruch: Viele sahen in ihm das „Anti-System“, den Radikalen, der „die Kettensäge“ ansetzt. Doch wie so oft bei radikalen Setzungen – der Teufel steckt im Detail.

3. Bilanz und Realität – Ein Jahr Milei im Praxistest (Stand: Oktober 2025)

Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Javier Milei zeigt sich ein zunehmend ernüchterndes Bild. Während internationale Beobachter zu Beginn noch von einem „marktwirtschaftlichen Befreiungsschlag“ sprachen, ist heute klar: die Realität hat die Ideologie eingeholt. Viele der radikal angekündigten Reformen haben in der Praxis nicht nur zu massiven sozialen Verwerfungen geführt, sondern auch die strukturelle Krise Argentiniens weiter vertieft.

3.1 Wirtschaftliche Bilanz – Schock ohne nachhaltige Erholung

Inflation & Preisniveau
Trotz massiver Kürzungen und „Schockmaßnahmen“ bleibt die Inflation hoch. Zwar fiel sie von über 250 % auf etwa 120 %, doch der Preis dafür war ein drastischer Einbruch der Inlandsnachfrage.
Die Preise für Grundnahrungsmittel sind im Jahresvergleich um bis zu 180 % gestiegen, während der durchschnittliche Reallohn um über 30 % gefallen ist. Viele Familien leben heute unterhalb der Armutsgrenze – laut offiziellen Zahlen betrifft dies über 60 % der Bevölkerung, ein historischer Höchstwert.

Industrie & Binnenmarkt
Die einseitige Fokussierung auf Exporte und internationale Investoren hat den Binnenmarkt veröden lassen. Zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen mussten schließen, weil sie die abrupten Subventionskürzungen (z. B. für Energie, Transport und Rohstoffe) nicht verkraften konnten.
Die Deindustrialisierung schreitet fort – und ausländische Investoren zögern: politische Instabilität und schwache Kaufkraft schrecken ab.

Haushalt & Staatsfinanzen
Zwar gelang es Milei, das Staatsdefizit nominal zu reduzieren, aber nicht nachhaltig: Es geschah durch brachiale Kürzungen bei Renten, Bildung und Infrastruktur, nicht durch strukturelles Wachstum. Der Staat hat sich sozusagen „gesundgespart“ – auf Kosten seiner Bürger.
Das Problem: ein Land mit kaputtgesparter Infrastruktur, unterfinanzierten Schulen und überlasteten Krankenhäusern kann auf Dauer keine Investoren halten.

3.2 Gesellschaftliche Folgen – Verelendung im Namen der Effizienz

Massenverarmung und Hunger
Die schrittweise Abschaffung von Energie- und Lebensmittelsubventionen hat Millionen Menschen in bittere Armut getrieben. In Buenos Aires und Rosario sieht man wieder das, was man Jahrzehnte nicht kannte: Suppenküchen, Hungerproteste, Müllsammler-Karawanen.
Internationale Hilfsorganisationen berichten, dass Kinderarmut inzwischen über 70 % beträgt.

Arbeitslosigkeit und soziale Unruhe
Der drastische Personalabbau im öffentlichen Dienst – über 250.000 Entlassungen in weniger als zwölf Monaten – hat den Arbeitsmarkt destabilisiert. Auch im Privatsektor folgten Kündigungen, weil Nachfrage und Investitionen einbrachen.
Die Folge: Streiks, Massenproteste, Blockaden. Die Regierung reagierte mit Polizeigewalt und Notverordnungen, was wiederum zu internationalen Protesten führte.

Verlust sozialer Stabilität
Argentinien erlebt derzeit eine gefährliche soziale Fragmentierung:

  • eine kleine, globalisierte Oberschicht profitiert von der Kapitalöffnung,
  • eine schwindende Mittelschicht kämpft ums Überleben,
  • eine wachsende Mehrheit lebt in prekären Verhältnissen.
    Das Land droht auseinanderzubrechen – ökonomisch, sozial und moralisch.

3.3 Politische Realität – Zwischen Alleingang und Autoritarismus

Mileis Regierung stilisiert sich weiterhin als „Revolution gegen das Establishment“, doch ihre Machtstrategie ähnelt zunehmend autoritären Mustern.
Das berüchtigte „Megadecret 70/2023“, das ohne parlamentarische Zustimmung Hunderte Gesetze außer Kraft setzte, ist weiterhin in Kraft – obwohl der Oberste Gerichtshof mehrfach dessen Verfassungswidrigkeit anmahnte.

Oppositionelle Medien und Gewerkschaften berichten von zunehmender Repression. Regierungskritische Journalisten verlieren Lizenzen, NGOs werden mit Steuerprüfungen schikaniert, Demonstrationen teilweise verboten.

Der politische Diskurs ist vergiftet: Milei nutzt Social Media, um Kritiker als „Parasiten“, „Staatsverbrecher“ oder „sozialistische Ratten“ zu diffamieren. Die Sprache der Spaltung ersetzt die Sprache der Vernunft.

3.4 Außenpolitische Abhängigkeit – Der Preis der „Trumpisierung“

Argentinien steht außenpolitisch in einer unkomfortablen Position. Die „Neuausrichtung“ auf die USA – insbesondere auf das Trump-Lager – hat zu einer massiven Entfremdung von anderen Partnern geführt:

  • Der geplante BRICS-Beitritt wurde endgültig gestoppt.
  • China hat mehrere Kreditprogramme eingefroren.
  • Brasilien, traditionell wichtigster Handelspartner, verhält sich zunehmend distanziert.

Zwar fließen US-Kredite und Fonds in Milliardenhöhe, doch diese Gelder sind zweckgebunden – und schaffen politische Abhängigkeit.
Washington bestimmt de facto, wie Buenos Aires seine Wirtschaftspolitik ausrichtet. Selbst Teile der argentinischen Rechten sprechen inzwischen offen von einem „kolonialen Verhältnis“.

3.5 Gesellschaftlicher Vertrauensverlust – Der Zusammenbruch der Mitte

Die Polarisierung erreicht gefährliche Dimensionen.
Auf der einen Seite steht ein fanatischer Kern von Milei-Anhänger*innen, die ihn als „Heilsbringer“ verehren. Auf der anderen Seite eine wachsende Mehrheit, die sich betrogen fühlt.
Umfragen zeigen: Nur noch 32 % der Bevölkerung halten Milei für glaubwürdig, 58 % wünschen sich Neuwahlen oder eine Übergangsregierung.

Zugleich verroht die öffentliche Debatte. In sozialen Medien kursieren Verschwörungserzählungen, Hasskampagnen und Gewaltaufrufe. Ein Land, das einst als intellektuelles Zentrum Südamerikas galt, verliert seine demokratische Kultur.

3.6 Der Mythos der „notwendigen Härte“

Befürworter argumentieren, Mileis Kurs sei zwar schmerzhaft, aber notwendig – eine „bittere Medizin“.
Doch diese Analogie ist irreführend: Medizin heilt, sie tötet nicht.
Was in Argentinien geschieht, ist kein temporärer Entzug – es ist eine ökonomische Amputation ohne Rehabilitationsplan.
Selbst wenn sich die Inflation irgendwann stabilisiert, werden Armut, Arbeitslosigkeit, Abwanderung und institutioneller Vertrauensverlust Generationen prägen.

3.7 Internationale Bewertung – Vom Experiment zum Mahnmal

Während neoliberale Thinktanks Milei anfangs feierten, kippt die Stimmung.
Selbst die traditionell marktorientierte Financial Times schreibt inzwischen von einem „ökonomischen Selbstmordversuch im Namen des freien Marktes“.
Der IWF mahnt vor „sozialer Implosion“, und internationale Investoren ziehen sich wegen der „politischen Volatilität“ zurück.

Argentinien droht, zu einem abschreckenden Beispiel zu werden: Wie man ein Land mit überstürzten, ideologisch motivierten Reformen in Rekordzeit destabilisiert.

4. Warum die Verherrlichung der Konzepte trügerisch ist

Die Reformideen wurden vielfach als modern, mutig und notwendig gelobt – doch dabei wird häufig übersehen:

  • Dass Reformen in einem Land mit tiefen strukturellen Problemen nicht isoliert wirken können.
  • Dass Abrupte Maßnahmen ohne soziale Begleitung enorm schmerzhaft sind – und politische Legitimität kosten können.
  • Dass Deregulierung und Staatsabbau nicht automatisch Wachstum bedeuten – insbesondere nicht in einem Umfeld mit hoher Inflation und niedrigem Vertrauen.
  • Dass eine radikale Währungsreform (z. B. Dollarisation) die eigene Geldpolitik eliminiert und damit Instrumente für Krisenreaktion.
  • Dass externe Abhängigkeit (z. B. USA, IWF) zwar kurzfristig hilft – langfristig aber die nationalen Spielräume einschränkt.
  • Dass populistische Inszenierung (die Kettensäge als Symbol) schneller Erfolge suggeriert, als tatsächlich realisiert werden können.

Die Gefahr besteht darin, dass die Reformen – so notwendig sie sein mögen – in ihrer Umsetzung und Wirkung überfordert sind und die Bevölkerung unruhig wird, wenn Ergebnisse ausbleiben.

5. Der Preis des Experiments

Ein Jahr Milei hat bewiesen:

  • Die „Kettensäge“ mag als Symbol der Befreiung gedacht gewesen sein,
    doch sie hat in Wahrheit das soziale Rückgrat eines ganzen Landes durchtrennt.
  • Der „neue Kapitalismus“ brachte nicht Wohlstand, sondern Verarmung.
  • Die Abhängigkeit von Trump und den USA hat die Souveränität Argentiniens geschwächt.
  • Die Demokratie wurde formal gewahrt, aber inhaltlich ausgehöhlt.

Mileis politisches Experiment ist damit weniger ein ökonomisches Reformprojekt als ein ideologisches Labor – ein riskantes, zutiefst menschenfeindliches Experiment, bei dem das argentinische Volk den Preis zahlt.

6. Fazit: Ein Reformauftrag mit hoher Brisanz

Der Wahlsieg von Javier Milei markiert ohne Frage einen historischen Einschnitt in der argentinischen Politik – ein klares Mandat für Veränderung. Doch dieser Mandat ist zugleich eine enorme Bürde: Ein Land in der Krise versucht mit radikalen Mitteln eine Wende. Die Reformkonzepte – kleiner Staat, Deregulierung, Marktöffnung, Dollarisation – sind ambitioniert und in der Theorie nachvollziehbar. Doch die Risiken sind nicht kleiner geworden: Soziale Spannungen, wirtschaftliche Abhängigkeit, politische Instabilität, institutionelle Schwächen.

Argentinien steht zurzeit quasi an einem Scheideweg: Gelingt es, die Reformen mit sozialer Ausgewogenheit, Stabilität und Aussagekraft umzusetzen, könnte sich das Land neu aufstellen. Verfehlt es hingegen die Erwartungen, riskiert es eine tiefere Krise – mit sozialem Rückschlag, Vertrauensverlust und außenpolitischer Unterordnung.

Die Tragödie Argentiniens unter Milei besteht nicht darin, dass es Reformen durchgeführt hat – sondern darin, dass es sich einer Ideologie hingegeben hat, die die Menschen vergessen hat, denen sie angeblich dienen sollte.

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